Das Rabbiner-Seminar zu Berlin – die ersten 25 Jahre

U.a.: Moshe Rebhuhn, Ahron Brandler, J. Wohlgemuth, Moses Krasser, Hermann Jakob, Benjamin Rosenzweig, Jacob Stern, Gilles, Arnold Seligmann, Maximilian Landau, Abraham Wolf, Dombach, Steinhaus, Schaul Weingart, Andor Birnbaum, Broch, Rabbiner Cycowicz, Dr. Josef Burg, Dr. Freimann, Dr. Samuel Grünberg, Dr. Erich Esriel Hildesheimer, Dr. Jacob Jechiel Weinberg
(Eine Chronik des Dozenten-Kollegium aus dem Jahre 1898)
Die Begründung des Rabbiner-Seminars zu Berlin ist mit der im September 1869 erfolgten Berufung Dr. Esriel Hildesheimers nach Berlin an die Spitze der soeben begründeten gesetzestreuen Synagogen-Gemeinde eng verknüpft. Er hatte die Übernahme des Rabbinats dieser Gemeinde an die Bedingung geknüpft, dass ihm die Möglichkeit gesichert werde, seine bisherige rabbinische Lehrwirksamkeit mit vermehrten Mitteln und Kräften in Berlin fortzusetzen. Mit der ihn auszeichnenden Energie eröffnete er auch sofort, im Oktober desselben Jahres, seine Lehrvorträge. Eine Reihe hervorragender Schüler seiner bisherigen Bildungsanstalt waren dem verehrten Lehrer aus Eisenstadt nach Berlin gefolgt, um hier unter seiner Leitung ihre Ausbildung fortzusetzen. Zu gleicher Zeit scharte sich auch eine Anzahl wissensdurstiger Schüler aus Deutschland um ihn, angezogen durch den Ruf seiner Gelehrsamkeit und seines unermüdlichen Lehreifers, gefesselt durch seine liebreiche, für alle Bedürfnisse seiner Jünger hilfsbereiten Güte und durch die vorbildliche Lebensführung dieses Meisters, dessen ganzes Wirken in der Hingebung an edle Liebeswerke, wie in der Wahrung und Erhaltung des überlieferten Judentums sich erschöpfte.
Rabbinat und Universität
Die Stifter

Es waren unvergesslich schöne Jahre idealen Wetteifers im Studium unserer Religionsquellen, welche Gleichstrebende aus allen Richtungen der Windrose zusammengeführt hatten und in der Verehrung ihres Lehrers einten. Die damaligen Schüler waren gleichzeitig Hörer der Berliner Universität, an der sie ihren wissenschaftlichen Studien oblagen. Diese Studien wurden aber ohne System, ohne bestimmte Beziehung auf den rabbinischen Hauptberuf betrieben und ermangelten hierdurch der Planmässigkeit und Geschlossenheit, die jedem zielbewussten Arbeiten zu Grunde liegen muss. Mit diesem von den Hörern selbst tief empfundenen Mangel verband sich noch ein weiterer, schwerwiegender: für eine Reihe von Disziplinen der jüdischen Wissenschaft, deren Behandlung ihnen unentbehrlich war, wie Bibel-Erklärung, jüdische Geschichte und Literatur, Religionsphilosophie, Homiletik, fehlte es ihnen an einer sachkundigen Führung. Von Seiten dieser Hörer wurde daher ihrem Lehrer das dringende Verlangen nach einer Anstalt unterbreitet, welche diese unerlässlichen Wissensgebiete in ihren Plan aufnehme und ihren Schülern ein abgerundetes Studium ermögliche. Dr. Hildesheimer, welcher selbst diese Notwendigkeit längst erkannte, nahm mit Feuereifer die Verwirklichung dieses ihm seit Jahren vorschwebenden Gedankens auf. Sein Streben fand alsbald verständnisvoll Förderung bei einem Kreise von Gelehrten, welche, im Dienste unseres Bekenntnisses erprobt, mit dem warmen Empfinden für die ungetrübte Erhaltung und Kräftigung des überlieferten Judentums einen klaren Blick für die Bedürfnisse der Zeit verbanden. Mit freudiger Bereitwilligkeit stellten die Herren Oberrath J. Altmann – Karlsruhe, Rabbiner Dr. Auerbach – Halberstadt, Landrabbiner Dr. Cohn – Schwerin (später in Berlin), Banquier A. H. Heymann – Berlin, Gustav Hirsch – Berlin, Sally Lewison – Hamburg und Emanuel Schwarzschild – Frankfurt a.M. ihre gereifte Erfahrung und hilfseifrige Tatkraft in den Dienst des Werkes, dessen weitere Entwicklung bis zu seiner völligen Ausgestaltung in dem ersten Rechenschaftsbericht der Jahres 1873 errichteten Lehranstalt wie folgt dargestellt wird:

»(Rabbiner Esriel Hildesheimer) ergriff im Ijar 5632 die Initiative und wandte sich zunächst an zehn hervorragende Persönlichkeiten in den verschiedenen Teilen Deutschlands, setzte ihnen auseinander, wie die Notwendigkeit, gerade in Berlin, der Metropole und für den jüdischen Studenten fast unentbehrlichen Universitätsstadt, eine Pflanzstätte für jüdisches Wissen im Sinne und im Geiste unserer Überlieferungen zu begründen, nicht mehr abzuweisen sei, und indem er ihnen zugleich die Grundzüge für die Herstellung eines solchen Instituts mitteilte, bat er, ratend und helfend beizustehen. Es sprachen sich alle diese Männer mit Begeisterung für die Realisierung des Planes aus, dass nämlich in Berlin eine Anstalt begründet werde, welche auf dem Boden des gesetzestreuen Judentums stehend, die heranzubildenden Rabbiner vor allem mit einer gründlicheren und umfassenden Kenntnis des biblischen und talmudischen Schrifttums und der daraus hergeleiteten Ritualnormen auszustatten verbürgt, welche ferner ihre Hörer in allen den Disziplinen der jüdischen Wissenschaft ausbildet und zur selbständigen Produktivität erzieht, deren Studium eine Forderung der heutigen Zeitbildung ist, und welche endlich auch die religiöse Erziehung ihrer Hörer anstrebt.
Es konnte bei der grossen Tragweite des Werkes nicht fehlen, dass Männer sich bereit fanden, die Agitation für die Möglichkeit seiner Ausführung in Händen zu nehmen. Die Unterzeichneten traten, vertrauensvoll auf des Höchsten Beistand blickend, zu einem nunmehr notwendig gewordenen Central-Comité zusammen, ihm zur Seite bildeten sich bald darauf in fünf Städten Local-Comité’s, welche die Propaganda am jeweiligen Ort wesentlich förderten und einen grossen Teil zur Förderung des Werkes beitrugen. Ihr Vertrauen hatte sie nicht getäuscht. Ein Aufruf des Central-Comité’s zur Beisteuer für die nötigen Fonds resp. Jahresbeiträge hatte sofort die grossartigsten Resultate: der erste Aufruf hierfür und der Bericht vom 1. Mai 1873 konnten bereits ausser nicht unerheblichen Zuwendungen von Effecten und Werken für die Bibliothek ca. 20 830 Thlr. für den Fonds und ca. 5500 Thls. Jährlicher Beiträge nachweisen und der vom 1. Oktober eine Steigerung der letzteren auf ca. 6100 Thlr.
Ein so tüchtiges, opferfreudiges Zusammenwirken hervorragender Menschen, zumeist der deutschen, aber auch zum großen Theil der ausserdeutschen Judenheit, musste ermutigend auf die Unternehmer wirken und dieselben an die Ausführung gehen lassen. In reiflicher, teils schriftlicher, teils mündlicher Beratung wurde das Statut vereinbart, in demselben zugleich die Lehrgegenstände des Seminars spezifiziert, für die rechtzeitig die Dozenten gewählt wurden, um ihnen in der Zwischenzeit bis zur Eröffnung des Seminars Musse und Gelegenheit zu geben, sich für die einzelnen Disziplinen entsprechend vorzubereiten.
Ein geeignetes Grundstück (Gipsstr. 12a) wurde unter recht günstigen Bedingungen erworben, um dem Institute eine bleibende Stätte zu sichern. Zur Erreichung der Rechte einer juristischen Person wurden die nötigen Schritte bei den betreffenden Behörden getan; sie wurden durch den Allerhöchsten Erlass vom 29. November 1873, welcher dem Seminar die Korporations-Rechte verleiht, von dem glücklichsten Erfolge gekrönt«.
Offizielle Eröffnung im Oktober 1873

Die Lehrfächer
So war nach einer Vorbereitung von kaum zwei Jahren das schwere Werk materiell und organisatorisch zu einer so glücklichen Entwicklung geführt, dass zur Eröffnung der Anstalt geschritten werden konnte. Dieselbe wurde am 22. Oktober 1873 (1. Marcheschwan 5633) mit einem Festakte vollzogen, zu welchem das Kultus-Ministerium und das Provinzial-Schulkollegium hervorragende Vertreter entsandten. Der Kultusminister Dr. Falk entschuldigte sein Ausbleiben in einem warmgehaltenen Schreiben, das mit den Worten schloss: »Mein Wunsch, dass die Anstalt gedeihe, ist darum nicht minder lebhaft «. Das Lehrer-Collegium bildeten bei Eröffnung des Seminars neben dem Rektor, Dr. Esriel Hildesheimer, zwei Dozenten, Dr. Dr. David Zwi Hoffmann (für Talmud, Ritual-Codices und Pentateuch-Exegese) und Dr. Abraham Berliner (für nachtalmudische Geschichte, Literaturgeschichte und Hilfswissenschaften). Die von Anbeginn in Aussicht genommene Erweiterung des Kollegiums wurde bereits im Jahre 1874 verwirklicht, indem Dr. Jakob Barth als Dozent für hebräische Sprache, für Exegese der biblischen Bücher (mit Ausnahme des Pentateuch) und für Religionsphilosophie eintrat.

Unter den Studenten befinden sich: Schaul Weingort, Chanoch Hans Meier, Yerachmiel Bergmann, Efraim Jehuda Offenberg
Die Geschichts-Disziplin, welche bis dahin der Rektor vorgetragen hatte, übernahm i. J. 1882 Dr. Hirsch Hildesheimer, nachdem die Gymnasial-Vorbereitungsschule, der er vorgestanden, aus inneren und äusseren Gründen aufgelöst worden war. Durch die Berufung des Dr. Hirsch Hildesheimer wurde es möglich, in den Lehrplan Vorlesungen über Josephus, Philo und die Alexandriner, sowie über Geographie Palästinaìs erweiternd einzuführen. Herr Rabbiner Dr. Salomon Cohn hatte nach seiner Übersiedelung von Schwerin nach Berlin die Güte, seine wertvolle Kraft auch lehrend in den Dienst unserer Anstalt zu stellen, indem er bis zur Verlegung seines Wohnsitzes nach Breslau (1894) theoretische und praktische Homiletik vortrug. Die ausserordentliche Steigerung der Schülerzahl machte im Verein mit Ursachen interner Natur i. J. 1895 die Anstellung einer ferneren Lehrkraft für den talmudischen Unterricht in der Unterabteilung notwendig. Erfreulicherweise konnten seitens des Dozenten-Kollegiums bei der Wahl dieser Lehrkraft mehrere der ehemaligen Schüler des Seminars in Vorschlag gebracht werden. Das Kuratorium entschied sich für Dr. Joseph Wohlgemuth, der neben den talmudischen Disziplinen in Abteilung B. auch Theoretische Homiletik und Religionsphilosophie übernahm. Durch diese Entlastung konnte Dr. Hoffmann seine ungeteilte Kraft der talmudisch-halachischen Lehrthätigkeit in der Ober-Abteilung widmen. Die schon bei Begründung des Seminars festgesetzten Aufnahme-Bedingungen, welche ein einheitliches Bildungsniveau der Studierenden sichern sollen, haben wir bis zur Stunde unverändert festgehalten und durchgeführt. Danach wurden und werden als ordentliche Hörer nur diejenigen zugelassen, welche neben der als selbstverständlich vorausgesetzten religiösen Lebensführung a) im Talmudischen die Befähigung zum selbständigen Erfassen eines mittelschweren Textes nebst Raschi und Tosaphot, b) im Profanen mindestens die Reife für die Prima eines Gymnasiums nachweisen können. Nur in seltenen Ausnahmefällen wurde mit Rücksicht auf die Schwierigkeiten, welche, zumal ausserhalb Deutschlands, sich der Erwerbung von Gymnasial-Bildung entgegenstellen, auch solchen Kandidaten Aufnahme als ausserordentlicher Hörer gewährt, welche nur im Talmudischen den Anforderungen genügen. Endlich gereicht es uns zur aufrichtigen Freude, vor der Öffentlichkeit bezeugen zu können, dass von Anbeginn unserer Lehrwirksamkeit bis in die Gegenwart das rastlos-eifrige Streben, der sittlich religiöse Ernst und die rege Empfänglichkeit der Hörer die Bemühungen ihrer Lehrer jederzeit erleichtert hat, dass mit verschwindenden Ausnahmen alle Diejenigen, die ihre Autorisation seitens des Rabbiner-Seminars erhalten haben, in ihrer Lehr- und Berufswirksamkeit den Grundsätzen der Anstalt treu sich bewähren und so das Vertrauen rechtfertigen, mit dem wir sie in ihre Amtstätigkeit entlassen haben. Unter den reichen Gnadenbezeugungen des Allmächtigen, welche das Rabbiner-Seminar durch alle Phasen seiner Ausgestaltung sichtlich begleitet haben, empfinden und verehren wir diese Krönung unseres Strebens als seinen schönsten Lohn. Offenbart sich ja darin abermals die erhebende Wahrheit, dass das überlieferte Judentum seine erziehliche, religiös stärkende Macht unter den Bildungsbedingungen der Gegenwart nicht minder auszuüben vermag, wie in der Vergangenheit!

Das Modell Jahre ernster, mühereicher Arbeit liegen hinter uns. Das Facit derselben zu ziehen, die fünfundzwanzigjährige Wirksamkeit der Anstalt, ihre Leistungen und Erfolge zu würdigen, ist nicht unseres Amtes. Aber bei aller Zurückhaltung dürfen wir es aussprechen, dass unserem Streben das Gelingen nicht versagt geblieben ist. Unter schwierigen Verhältnissen entstanden, Vorurteilen und Anfeindungen hüben und drüben ausgesetzt, ist das Rabbiner-Seminar zu dem umfangreichsten, besuchtesten Institute seiner Art emporgewachsen. In allen Gauen Deutschland’s und darüber hinaus wirkt ein stattlicher Kreis wissensstarker, berufsbegeisterter, überzeugungsfester Männer im Sinne und Geiste der Anstalt, der sie ihre Ausbildung danken, und mit freudiger Genugtuung dürfen wir es verzeichnen, dass von Jahr zu Jahr die Zahl der Gemeinden sich vermehrt hat, welche Schüler des Seminars als geistliche Häupter an ihre Spitze beriefen, oder mit der religiösen Erziehung ihrer Kinder betrauten. Diese Beweise ehrenden Vertrauens in das Rabbiner-Seminar werden, wie wir, alle Gönner und Freunde desselben als ein wohltuendes Zeugnis dafür begrüssen, dass die Anhänglichkeit und Begeisterung für das G’ttesgesetz, für seine ungeschmälerte Erhaltung und Betätigung in immer weiteren Kreisen Wurzel fassen und sich vertiefen. Möge denn auch das zweite Vierteljahrhundert, in welches die Anstalt nunmehr eintritt, unser Streben von Erfolg gekrönt sehen, geistige Führer heranzubilden, welche begeistert für die ewigen Wahrheiten unserer Religion, sie aufopfernd und hingebungsvoll lehren und verbreiten und zugleich in der Teilnahme an dem geistigen Schaffen unserer Zeit, in treuer staatsbürgerlicher Pflichterfüllung, in der Mitwirkung an allem Schönen und Edlen zum Heile der Gesamtheit ihre Lebensaufgabe sehen!
Das Docenten-Collegium
Hier einige Mitglieder:
Dr. Joseph Wohlgemuth, Dozent am Rabbiner-Seminar seit 1895, Herausgeber der Monatsschrift für Lehre und Leben im Judentum “Jeschurun” von 1914-1939, Interims-Rektor des Rabbiner-Seminars von 1921 bis zu seinem Tod 1931 Rabb. Dr. Herrmann Zwi Klein (1879-1955), Rabbinats-Assessor von Adass Jisroel und Lehrer am Schulwerk der Gemeinde Rabb. Dr. Meier Hildesheimer (1864-1939), Dirigent der Religionsschule von Adass Jisroel, Rabbinats-Mitglied, Mitleiter des Rabbiner-Seminars und Lehrer am Schulwerk von Adass Jisroel, genannt “Onkel Meier” Rabb. Dr. Esra Munk (1867-1940), Nachfolger von Esriel Hildesheimer als rabbinisches Oberhaupt von Adass Jisoel und Vorsitzender des Rabbinatsgerichts, Mitglied im “Bund Jüdischer Akademiker” Rabbiner und Arzt Dr. Chaim Biberfeld (1864-1939), Rabbinats-Mitglied von Adass Jisroel bis 1899, Rabbiner am Beth-Hamidrasch in der Heidereutergasse 4 und Lehrer am Schulwerk der Gemeinde
Quelle
übernommen aus: “Das Rabbiner-Seminar zu Berlin : Bericht über die ersten fünfundzwanzig Jahre seines Bestehens (1873 – 1898)”