
Wir lernen in der Gemara Rosch Haschna (16b 12):
אָמַר רַבִּי כְּרוּסְפָּדַאי אָמַר רַבִּי יוֹחָנָן: שְׁלֹשָׁה סְפָרִים נִפְתָּחִין בְּרֹאשׁ הַשָּׁנָה, אֶחָד שֶׁל רְשָׁעִים גְּמוּרִין, וְאֶחָד שֶׁל צַדִּיקִים גְּמוּרִין, וְאֶחָד שֶׁל בֵּינוֹנִיִּים. צַדִּיקִים גְּמוּרִין — נִכְתָּבִין וְנֶחְתָּמִין לְאַלְתַּר לְחַיִּים, רְשָׁעִים גְּמוּרִין — נִכְתָּבִין וְנֶחְתָּמִין לְאַלְתַּר לְמִיתָה, בֵּינוֹנִיִּים — תְּלוּיִין וְעוֹמְדִין מֵרֹאשׁ הַשָּׁנָה וְעַד יוֹם הַכִּפּוּרִים, זָכוּ — נִכְתָּבִין לְחַיִּים, לֹא זָכוּ — נִכְתָּבִין לְמִיתָה.
„Rabbi Keruspedaj sagte im Namen Rabbi Joḥanans: Drei Bücher werden am Neujahrsfeste aufgeschlagen: eines für die völlig Gottlosen, eines für die völlig Frommen und eines für die Mittelmäßigen. Die völlig Frommen werden sofort zum Leben aufgeschrieben und besiegelt, die völlig Gottlosen werden sofort zum Tode aufgeschrieben und besiegelt, und die Mittelmäßigen bleiben vom Neujahrsfeste bis zum Versöhnungstage in der Schwebe; haben sie sich verdient gemacht, so werden sie zum Leben verschrieben, haben sie sich nicht verdient gemacht, so werden sie zum Tode verschrieben.“
Die Erklärung von Rabbi Kruspedai wurde in den rund 1800 Jahren, seit sie geschrieben wurde, von vielen Kommentatoren behandelt, und es lassen sich viele tiefgründige Interpretationen zu diesem Thema finden.
Meine Fragestellung bezieht sich eher auf ein “technisches” Problem…
Wenn, wie es aus den Tossafot, den mittelalterlichen Kommentaren zum Talmud, hervorgeht, die in “der Mitte” diejenigen sind, bei denen sich gute und schlechte Taten die Waage halten, dann könnte diese Gruppe nur einen Bruchteil von einem Prozent von uns allen ausmachen. Denn statistisch gesehen ist die Wahrscheinlichkeit, dass jemand bis Rosch Haschana genau gleich viele gute und schlechte Taten vollbringt, so gut wie nicht vorhanden.
Einer der frühen Kommentatoren, der Meiri (in seinem Chibur Hateshuvah), und der viel spätere HaGaon Rav Yitzchak Hutner (Pachad Yitzchak) legen jedoch nahe, dass Rabbi Keruspedaj den “beinoni” nicht als jemanden ansieht, der buchstäblich in der Mitte einer formalen numerischen Pattsituation zwischen Mitzwot und Aveirot gefangen ist. Denn wenn das der Fall wäre, käme es vermutlich äußerst selten vor, doch der Rambam (Hilchot Teshuvah 3:4) ermahnt uns alle, uns während der zehn Tage der Buße und darüber hinaus als “beinoniim” zu betrachten. Vielmehr verstehen Rabbi Keruspedaj und der Rambam das Urteil von Rosch Haschana nicht nur als eine Funktion unseres vergangenen Lebenswegs, sondern auch als unsere Ausrichtung für die Zukunft. Daher steht der “beinoni” für all jene, die schwanken oder sich in Bezug auf ihren religiösen Kurs und Werdegang im Zwiespalt befinden. Nähern wir uns G´tt an oder entfernen wir uns von ihm? Verstärkt sich unser religiöses Engagement oder lässt es nach? Die einzige Mitzwa, die diesen Aspekt unseres Lebens effektiv ansprechen und beeinflussen kann, ist der introspektive, seelische Prozess der Teschuwa, der Umkehr, und deshalb ist die Teschuwa der einzige Weg, der dem “beinoni” zur Verfügung steht. (Nicht nur “eine weitere gute Tat zu tun”, wie es der Fall wäre, wenn wir Taten und Unterlassungen “aufrechnen” würden…)
Beste Wünsche und Gmar Chatima Towáh!
Rabbiner Chaim Michael Biberfeld