„Ein Fürst und ein großer Israels ist an diesem Tage gefallen“*
4 Tamus: 120. Todestag von Rabbiner Dr. Esriel Hildesheimer
„Heute früh um 9 Uhr kam nun derselbe am Anhalter Bahnhof mit seiner Familie an und wurde von den Comitémitgliedern und einer sehr großen Menschenmenge festlich empfangen“, so die Vossische Zeitung vom 3. September 1869.
„Am Montag, den 4 Tamus fünf Minuten vor 9 ½ Uhr hat Esriel Hildesheimer, seligen und heiligen Angedenkens, die Augen zum Todesschlummer geschlossen (…) wurde die Bahre aus dem G’tteshause durch das Spalier bildende Trauergefolge nach dem Leichenwagen getragen, und der unübersehbare Kondukt setzte sich in Bewegung. (…) nahezu zweitausend Personen, die zumeist sämtlich, trotz des strömenden Regens, den nahezu zweistündigen Weg zu Fuß zurücklegten“ (Die Jüdische Presse, 22. Juni 1899).
Zwischen diesen beiden Ereignissen liegen 30 Jahre intensiver, erfolgreicher und aufopferungsvollen Arbeit von Rabbiner Dr. Esriel Hildesheimer. Ein herausragender Vertreter, gemeinhin die Verkörperung deutschen Judentums in dessen feinste Ausprägung.
Die Gründung der Israelitischen Synagogen-Gemeinde (Adass Jisroel) zu Berlin im Juni 1869, deren geistiges Oberhaupt er wurde, stellte die jüdische Antwort auf den im 19. Jahrhundert herrschenden Druck zu gesellschaftlicher und weltanschaulicher Assimilation dar. Doch nicht emanzipationsfeindliche Abkapselung war das Ziel der Gemeinde, sondern die Vereinigung von gesetzestreuem Leben mit der Offenheit für Kultur, Bildung und Kunst der Umwelt. Bewusstes Judentum als Normalität deutscher Gesellschaft. Die Maximen Emanzipation und aktive Teilnahme an dem öffentlichen Leben bei Wahrung der jüdischen Tradition wurden unter der der Leitung von Rabbiner Hildesheimer, der „Rebbe“, wie er genannt wurde, konsequent verwirklicht.
Briefe die damals lediglich mit der Adresse „An den Oberrabbiner von Deutschland“ ankamen wurden von der Post an das Gemeindebüro der Adass Jisroel für Rabbiner Hildesheimer weitergeleitet. Im In-und Ausland eine anerkannte und geachtete jüdische Autorität.
Organisatorisch und personell mit seiner Adass Jisroel eng verknüpft gründete und leitete Rabbiner Hildesheimer auch das Rabbiner-Seminar zu Berlin. Die Aufnahmebedingungen verdeutlichen den Anspruch und das Niveau des erst in der Gipsstraße, danach in der Artilleriestraße (heute Tucholskystraße) stets im Gemeindehaus der Adass Jisroel, wirkenden Rabbiner-Seminar zu Berlin: Bewerber hatten Abiturzeugnis und Immatrikulationsbescheinigung der Friedrich-Wilhelm-Universität (heute Humboldt-Universität) vorzulegen. Die gleichzeitig anzustrebende akademische Befähigung in der Berliner Universität war für Rabbiner Dr. Hildesheimer eine Selbstverständlichkeit. In der Aufnahmeprüfung für das Rabbiner-Seminar mussten nach Vorgaben von Rabbiner Hildesheimer nachgewiesen werden „Kenntnis des Pentateuchs und der Elemente der hebräischen Grammatik, sowie die Befähigung, die historischen Bücher der Bibel zu übersetzen und einen mittelschweren talmudischen Text mit Raschi und Tossafoth selbstständig zu erfassen“ (Aus der Satzung).
Der Anspruch Tradition und Aufklärung wiederkehrend in dem Satz von Sprüche der Väter „Jaffé Talmud Torah im Derech Eretz“ – Schön ist die Erfüllung der Torahideals in Verbindung mit den Anforderung der Zeit – prägt das Werk und das Legat von Rabbiner Dr. Esriel Hildesheimer, der heute vor 120 Jahren, am 4 Tamus, verstarb. Manche, die sich heute schlagwortartig auf ihn berufen, sollten innehalten und sich näher mit seinem Leben und seinem Vermächtnis befassen.
* “Die Jüdische Presse“, Berlin, 22. Juni 1899