Berlin an einem Tag wie heute, vor 80 Jahren. Montag, der 18. Dezember 1939, regnerisch, durchschnittliche Tagestemperatur Minus 5,8 Grad. Entrechtung und Verfolgung der Juden erreichen täglich weitere Höhepunkte. Am Sitz der Israelitischen Synagogen-Gemeinde (Adass Jisroel) zu Berlin im Hansa-Viertel, Siegmunds Hof 11, (der Hauptsitz der Gemeinde in Mitte, Artilleriestraße 31 war schon ein Jahr zuvor, am 9. November, geschlossen worden) erscheint die Gestapo zur Aushändigung einer Verbotsverfügung der Gemeinde, unterzeichnet von einem gewissen Herrn Lischka, Kurt Lischka, später bekannter als Der Schlächter von Lyon. Bürokratisch korrekt muss der Erhalt der Anordnung quittiert werden; dies bleibt Paul Hecht, dessen Mittelname vorschriftsmäßig mit „Israel“ ergänz war, nicht erspart. 70 Jahre nach ihrer Gründung sollte damit die Geschichte der zweiten jüdischen Religionskörperschaft Berlins zum Ende kommen. Was folgte ist bekannt, Entrechtung, Ausgrenzung, Plünderung des Vermögens, Entzug aller Gemeindestätten, Deportation und Ermordung. 99% der deutschen Bevölkerung, also der Großeltern und Urgroßeltern der heute verantwortlichen Politiker machen bei diesem Verbrechen mit oder schauen zu; oft beides. Schuld ist nicht erblich, Anstand ist erlenbar.
In den 80er Jahren rekonstituiert sich die Gemeinde allmählich. Es gibt sie wieder, Berlin ist geteilt, in Ost und West wird die Adass Jisroel aktiv; religiös, kulturell, sozial. Alle freuen sich. Stimmt nicht. Nicht alle freuen sich. Erklärte Antisemiten freuen sich natürlich nicht aber sie schweigen. Offizielle sind weniger zurückhaltend: Weder das angeblich antifaschistische Ostberlin noch das tatsächlich demokratische Westberlin möchten der Gestapoverfügung von 1939 trotzen und die Gemeinde, die ja irgenwie noch „illegal“ wirkt, wieder zulassen. Ohne Zulassung, aber die Gemeinde macht weiter.
Dann kommt wieder ein Tag wie heute, vor 30 Jahren. Der 18. Dezember 1989. Auch ein Montag. Auch wolkig, auch etwas Regen, 10,4°. Die Mauer ist seit knapp sechs Wochen offen, die Geschichte kriecht nicht mehr, sie rennt, die Ereignisse überschlagen sich, die Übergangsregierung der DDR erklärt eine Selbstverständlichkeit, nämlich, dass antijüdische Naziverordnungen seit 1945 null und nichtig sind, dass demzufolge die Zerschlagung der Gemeinde durch die Gestapo Unrecht war, also juristisch unwirksam; damit besitzt die Gemeinde Adass Jisroel immer noch ihren ihr am 9. September 1885 von Wilhelm, König von Preußen und Kaiser von Deutschland feierlich verliehen ursprünglichen Rechtsstatus. Nun freuen sich alle.
Nicht alle. Die DDR tritt von der Weltgeschichte ab. Die Gemeinde lebt, aber nicht alle möchten das wahr haben. Sie verstehen nicht, dass Judentum nicht monolithisch, sondern pluralistisch ist, nicht Einfalt, sondern Vielfalt. Nicht besser handelt der Berliner Senat. Man würde es kaum vermuten, dass in einer deutschen Behörde derart spezifisches Fachwissen bekannt ist: In der für Kirchen-und Religionsgemeinden zuständige Kulturverwaltung scheint man, zumindest in Bezug auf Adass Jisroel, den Satz aus dem Gebet Unetane Tokef von Rosch Haschaná und Jom Kippur („who shall live and who shall die“) total missverstanden zu haben. Oder vielleicht waren hier nur banausische Fans von Leonard Cohen am Werk? Jedenfalls besteht man darauf, dass die Gemeinde, – traurig aber da kann man nichts machen -, in der NS-Zeit „untergegangen“ sei, sozusagen so eine Art Havarie auf hoher See, ein unbeeinflussbares Naturereignis brach herein; dies sei ein Votum der Geschichte und müsse respektiert werden. „Das menschliche Substrat“ der Gemeinde (gemeint waren die Frauen, Männer und Kinder) sei eben abhandengekommen, “Das Gemeindeleben ist tatsächlich seit 1939 eingestellt.” (Anke Martiny SPD). Wenn die Mitglieder dies gewollt hätten, wurde weiter argumentiert, wären sie kurz nach dem 8. Mai 1945 in Berlin vorstellig geworden und dies bekundet. (Problem: Die Mehrheit blieb aber leider in Auschwitz und die in die Emigration Geretteten hatten anderes zu tun). Jedenfalls, so die Argumentation der Senatskulturverwaltung, Berlin müsse das „konkludente“ Veto der Adassianer gegen die eigene Gemeinde und für deren Auslöschung „respektieren“.
Anstatt zu erröten hielt die Senatsverwaltung für Kultur über die Jahre diese Position stolz und ohne Komplexe durch. Von der einen zur nächsten Legislaturperiode weitergereicht, wurde sie zur DNA aller folgenden „Beauftragten für Kirchen, Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften“ des Berliner Senats. Der Tenor ihrer von Hand zu Hand weitergereichten Aktenvermerke, mit rühmlichen Ausnahmen, konditionierte Generationen von Senatoren und Staatssekretären.
Gerichte wurden angerufen. Die Berliner Kulturverwaltung war sich nicht zu schade, durch drei Gerichtsinstanzen, sich konsequent gegen die Existenz und für den Untergang der Jüdischen Gemeinde Adass Jisroel auszusprechen. Es kam zum Showdown vor dem Bundesverwaltungsgericht, wo die Senatskulturverwaltung auch dort von ihrer bekannten Position kein Millimeter abwich. Trotz Berliner Landeszuständigkeit wurde dem Bundesanwalt diese Senatsposition zugunsten der Fortwirkung von Naziunrecht doch zu bunt. Er trug vor, die Untergangsthese des Berliner Senats sei nicht nur rechtlich falsch, sie sei historisch und moralisch unsittlich, da sie die Betroffenen der NS-Vernichtungspolitik, nicht den deutschen Staat, – also die Opfer und nicht die Täter -, für erlittenes Unrecht verantwortlich macht. In einem Urteil das seitdem in den Juristischen Fakultäten deutscher Universitäten gelehrt wird stellte das Bundesverwaltungsgericht letztinstanzlich fest, dass die Adass Jisroel weder unter der Herrschaft des Nationalsozialismus noch nach dem Zweiten Weltkrieg, ob BRD oder DDR, untergegangen ist, sondern als Körperschaft des öffentlichen Rechts in rechtlicher Kontinuität und personeller Identität fortbesteht. Die Gemeinde habe bereits vor Inkrafttreten der Weimarer Reichsverfassung im Jahre 1919 ihren Körperschaftsstatus besäßen, diesen habe sie nie verloren.
Nachdem das höchste Gericht festellte, dass die Adass Jisroel mit der Gemeinde von 1869 in ununterbrochener Folge identisch ist, wurde sie damit die einzige in Deutschland noch existierende „altkorporierte“ Jüdische Gemeinde. Alle sonst existierenden jüdischen Gemeinden, ob mit oder ohne Körperschaftsstatus, sind Neugründungen.
Deutschland ist ein demokratischer Rechtsstaat der von seiner NS-Vergangenheit sich klar absetzt. Nun freuten sich alle. Leider nicht alle. Die Berliner Kulturverwaltung freute sich überhaupt nicht. Nicht damals und nicht Heute. Bis dato hat sie sich weder entschuldigt noch eine Umkehr in ihrer Haltung von der Gegnerschaft hin zur Zusammenarbeit vollzogen. Die krachende Niederlage vor dem höchsten Verwaltungsgericht Deutschlands hat sie nicht verwunden. Gegner bleibt Gegner. Auch wenn jüdisch. Kommt Zeit, kommt Rat.
Nach einem Interregnum simulierter Neutralität holte die Senatsverwaltung für Kultur im Jahre 2010 nun zum entscheidenden Schlag aus. Vendetta auf Deutsch eines proaktiven Duos: Der eine, schöngeistiger Stiefsohn eines Altnazis der Kampfzeit und erfolgreicher Ariseur, der auf der (mittlerweile gelöschten) Webseite seiner Stiftung über seinen kriminellen Erblasser erklärte, er wolle sich „kein abschließendes Urteil über einen Lebensweg anmaßen, der unter den schwierigen Bedingungen des 20. Jahrhunderts vollzogen werden musste“. Sein Partner, ein bis zum heutigen Tage sehr eingagierter Beamter (allerdings von einem Fraktionsvorsitzenden im Berliner Abgeordnetenhaus – sicherlich fälschlich – mehrfach als dem Antisemitismus anheimgefallen bezeichnet). Das Duo entschied, bis hierher und nicht weiter. Die Schande wird ausgewezt.
Die Förderung der Gemeinde wurde von ihnen unterbrochen. Nicht nur den Lebenden, auch den Toten der Gemeinde wurde jede Förderung entzogen. Zehn Jahre danach, im 150. Gründungsjahr der Gemeinde Adass Jisroel, im 30. Jahr nach Wiederherstellung ihrer Rechte, die Gemeinde lebt trotzdem immer noch, verhalten sich die verantwortlichen Politiker dieser Stadt prinzipientreu. Allseits erfährt man von deren tiefer Dankbarkeit angesichts der jüdischen Bereitschaft – trotz Massenmord – den Deutschen eine zweite Chance zu geben: Programme gegen den zunehmenden Antisemitismus werden aufgelegt, Beauftragte zu dessen Bekämpfung ernannt, verbrannte Synagogen wieder aufgebaut. Löbliche Aktivitäten. Gilt die neue Zärtlichkeit auch der Israelitischen Synagogen-Gemeinde (Adass Jisroel) zu Berlin? Das ist differentiert zu betrachten, man muss Prioritäten setzen, eine Auswahl treffen (Englisch: to select). Andere mögen sich an das Diktum „Wer Jude ist bestimme ich“ erinnert fühlen.
Ein Glück nur, dass die Berliner Kulturverwaltung heute ganz anders aufgestellt ist. In ihrer Haltung zur Jüdischen Gemeinde Adass Jisroel unverändert prinzipienfest, und, selbstberuhigend, in festen linken Händen; die dort Verantwortlichen sind schon per definitionem erkorene Antifaschisten, folglich über jeden, sogar unbewußten, antijüdischen Verdacht total erhaben.