Der Morgen nach dem 9. November 1938

Am 9. November 1938 wurde das Gemeindehaus der Adass Jisroel und Sitz des Rabbiner-Seminars zu Berlin von der Geheimen Staatspolizei besetzt und gesperrt. Jeder Zutritt wurde unterbunden. Lediglich der Hausmeister durfte  in Ausnahmefällen und unter Gestapo-Kontrolle das Haus zum Zwecke der Erhaltung und Beheizung noch gelegentlich betreten. Ihm ist es es zu verdanken, dass ein Teil des Bücherbestandes heimlich herausgeholt wurde und letztlich nach Israel gelangte. Ein wesentlicher Teil, Thorarollen,  heilige  Bücher, Archivüberlieferung, wurde geplündert bzw. ist bis zum heutigen Tag verschollen.

Rabbiner Dr. Harry Zwí Levy wohnte in der Oranienburger Straße 33, direkt neben der Neuen Synagoge und um die Ecke des Gemeindehauses Adass Jisroel. Wochentags betete er immer um 6 Uhr in der kleinen Synagoge des  Talmud-Vereins „Chewrat Schass“, Oranienburger Straße 32 und stand auch an diesem Donnerstagfrüh, 10. November vor der Tür, ein Polizeibeamter hielt ihn auf: „Da gibt’s nichts mehr, das ist verbrannt“. Rabbiner Dr. Levy wollte eine andere Synagoge  aufsuchen, dazu der Polizist: „Lassen Sie das, Doktor, die sind alle verbrannt oder gesperrt“.

Nicht weit entfernt, die Grenadierstraße, 400 Meter Straße, unter den Hausnummern 6a, 36, 37, 32, 43  nicht weniger als 19 Betstuben und kleinere Synagogen. Rabbiner Dr. Levy berichtet: „Mein zweiter Weg zur Grenadierstraße, woher die alarmierendensten Nachrichten kamen. Bis zur Münzstraße war nicht das Geringste wahrzunehmen… Nur die Rollläden von einer Reihe jüdischer Geschäfte waren herabgelassen (Ein Polizeihauptmann des Bezirks hatte gewarnt!). Aber dann: der Atem blieb mir stehen. Wo einst die Straße war, ein fast meterhoher Schutthaufen, das ganze zerstückelte Inventar der Betstuben bzw. Synagogen, die Thoraschreine und Betpulte zertrümmert und halb versengt, Becher, Leuchter, Thorasilber zertreten, zertrümmert, Synagogendecken, Vorhänge im wildesten Durcheinander und viele  Hunderte heilige Bücher halb verbrannt und halb zerfetzt. Eine Reihe loser Gemarablätter flog durch die Luft, als wollten sie der Vernichtung Widerstand leisten, und dazwischen die heiligen Thorarollen selbst z.T. zerrissen, z.T. zerstampft, und vor den Häusern, unwirklich wie Schatten, Menschengestalten mit vor Entsetzen und Schmerz fast erloschenen Augen, hilflos, unfähig das Unfassbare zu fassen. Am Rande der Straße sah ich auch Nichtjuden, die Züge voll Abscheu, Entrüstung und Scham. Sie schlichen sich weg“.

In Abwandlung von Bertolt Brechts Diktum: Mögen bis zum Ende der Tage „die anderen“ über deren nie vergehende Schande reden.