Der zweite Satz in der Parascha Wajechi lautet:
וַיִּקְרְב֣וּ יְמֵֽי־יִשְׂרָאֵל֮ לָמוּת֒ וַיִּקְרָ֣א ׀ לִבְנ֣וֹ לְיוֹסֵ֗ף וַיֹּ֤אמֶר לוֹ֙ אִם־נָ֨א מָצָ֤אתִי חֵן֙ בְּעֵינֶ֔יךָ שִֽׂים־נָ֥א יָדְךָ֖ יְרֵכִ֑י וְעָשִׂ֤יתָ עִמָּדִי֙ חֶ֣סֶד וֶאֱמֶ֔ת אַל־נָ֥א תִקְבְּרֵ֖נִי בְּמִצְרָֽיִם׃ (Bereshit 47,29)
Als Jakows Ende nahte, rief er seinen Sohn Joseph und sagte zu ihm: “Wenn ich Gnade in deinen Augen gefunden habe, so lege jetzt deine Hand unter meine Hüfte, und du sollst mit mir in Liebe und Wahrheit umgehen; begrabe mich jetzt nicht in Ägypten.”
Ich war fasziniert von der Art, wie Jakow Avinu mit seinem eigenen Sohn Josef sprach. “Wenn ich in deinen Augen Gunst gefunden habe”. Musste sich Jakow Avinu als Vater zu Josef Hatzadik (der „Gerechte“) “hinabbewegen” um ihn zu bitten, im Heiligen Land begraben zu werden? Hätte er ihn nicht dazu anweisen können? (Ich tröste mich mit dem Gedanken, dass schon Rav Samson Rafael Hirsch genau diese Frage schon einmal gestellt hat….)
Jakow Avinu wusste womöglich, dass die Mission, ihn nach Eretz Yisrael zurückzubringen, kein großes Problem darstellen würde. Politisch könnte es jedoch für seinen Sohn, der Vizekönig Josef, eine große Peinlichkeit sein. Zu dieser Zeit lebte die ganze Familie in Ägypten und genoss einen besonderen hohen Status, der ihnen vom Pharao selbst verliehen wurde. Von ägyptischer Seite wurde erwartet, dass, im Einklang mit dem großen Beitrag von Josef, sie sich integrieren und viel mehr zur ägyptischen Gesellschaft beitragen würden.
Jakow zurück nach Eretz Yisrael zu bringen, wäre das bisher deutlichste Zeichen dafür, dass man nur so lange wie nötig in Ägypten bleiben und damit die ägyptischen Gastgeber und den ihnen zuerkannten Sonderstatus “beleidigen” würde.
Jakow Avinu hatte das Gefühl, dass er das stärkste Mittel, das er hatte, einsetzen musste: מציאת חן d.h. „Gefallen finden“, um sicherzustellen, dass seine Bitte erfüllt wird. Diese besondere Eigenschaft war die Grundlage der einzigartigen Beziehung zwischen ihm und Josef Hatzadik; Josef hatte in den Augen seines Vaters immer eine besondere Anmut (חן). Als Sohn fand er von Geburt an “Gunst in Yaakovs Augen “.
Nun, da sich sein eigenes Leben dem Ende zuneigt, hat Jakow Avinu eine nicht leicht zu erfüllende Bitte und verlässt sich ausnahmsweise auf jene einzigartige Eigenschaft, die sie verbunden hatte. Diesmal zu seinem Vorteil. נשיאת חן…
Schabbat Shalom
Rabbiner Chaim Michael Biberfeld