Wir lesen diese Woche den folgenden Vers:
„Einen Fremdling sollst du nicht kränken und ihn nicht drücken; denn Fremdlinge waret ihr im Lande Ägypten“. (Schemot. 22.20)
וְגֵ֥ר לֹא־תוֹנֶ֖ה וְלֹ֣א תִלְחָצֶ֑נּוּ כִּֽי־גֵרִ֥ים הֱיִיתֶ֖ם בְּאֶ֥רֶץ מִצְרָֽיִם׃
Auf den ersten Blick scheint es schwer zu verstehen. War Ägypten etwa ein Vorbild für den Umgang mit Fremden? Wieso überhaupt Ägypten in diesem Kontext erwähnen?
Rashi weicht von der wortwörtlichen Formulierung ab und sagt: „Wenn du ihn verspottest, kann er dich auch verspotten und zu dir sagen: ‚Auch du stammst ja von Fremden ab‘. Begegne deinen Nächsten nicht mit einem Vorwurf, dem man auch dir machen kann“. Der erwähnte Vers bezieht sich also nicht auf die ägyptische Erfahrung als Vorbild, sondern eher als Warnung an uns.
Wenn wir das Thema weiter untersuchen, kommen wir zu einer weiteren schwierigen Frage. Wir lesen in Devarim (23.8) den folgenden Vers:
לֹֽא־תְתַעֵ֣ב אֲדֹמִ֔י כִּ֥י אָחִ֖יךָ ה֑וּא לֹא־תְתַעֵ֣ב מִצְרִ֔י כִּי־גֵ֖ר הָיִ֥יתָ בְאַרְצֽוֹ׃
„Du sollst den Idumäer nicht verabscheuen, denn er ist dein Bruder; du sollst den Ägypter nicht verabscheuen, denn ein Fremdling warst du in seinem Lande.“
Ist es wirklich möglich, die schrecklichen Qualen und den Tod zu ignorieren, die die Ägypter uns zugefügt haben?
Der „Rosch“ (Rabbi Asher ben Jechiel, Köln 1250 oder 1259 – Toledo 1327, bedeutender Talmudist, oft als Rabbenu Asher genannt, oder nach dem hebräischen Akronym für diesen Titel, der Rosh – רא“ש, wörtlich „Kopf“ – , selbst zur Emigration gezwungen…) erklärt zu letzterem Vers, dass wir die Ägypter, obwohl wir uns überwiegend der entsetzlichen Qualen bewusst sind, die sie uns in der späteren Periode unseres dortigen Aufenthalts zugefügt haben, in der Tat nicht verachten sollen. „Zu einem früheren Zeitpunkt (unseres Aufenthalts in Ägypten) haben sie uns jedoch gut behandelt”. Das ist ein erstaunlicher und tiefer Gedanke.
Wie wir wissen, wurden die für die Qualen verantwortlichen Ägypter streng bestraft. Im Gesamtbild müssen wir in der Lage sein, einen umfassenderen Blick zu werfen und dabei die guten Seiten derselben Nation anzuerkennen.
Als Individuen ist dies für uns eine überwältigende Lehre. Oft verachten wir Menschen, weil wir uns lediglich auf ihr jüngstes Verhalten uns gegenüber beziehen. Der ehrliche Weg ist jedoch, die Beziehung über Jahre hinweg immer im Blick zu behalten und einen Menschen nicht nur nach einer einzigen Tat zu beurteilen – auch wenn es eine sehr schmerzhafte war.
Schabbat Schalom!
Rabbiner Chaim Michael Biberfeld